Sonntag, 6. April 2008

Wer sich engagiert, der fliegt!

Über die unmöglichen Zustände an der Soziologie-Fakultät der MGU wollte ich schon länger einen Eintrag haben, kam aber nicht zu. Nun gibt es einen guten Artikel in der Berliner Zeitung:

Berliner Zeitung, 2.4.2008

Rechtgläubige Soziologie
Das Schicksal eines Studentenprotests in Moskau
Christian Esch

Der Sozialismus ist untergegangen, die Soziologie lebt. Und wie! Das Aschenputtel unter den Fächern der Sowjetzeit verkauft sich im neuen russischen Kapitalismus ganz ausgezeichnet. Jedenfalls gilt das für die Soziologische Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität: Die Studenten dort, erklärt Swetlana Jerpyljowa, seien "reich und nicht besonders schlau, weil man da über Beziehungen und Bestechung reinkommt."

Swetlana hat selbst dort studiert, bis sie vor zwei Wochen mit drei anderen aufsässigen Studentinnen zwangsexmatrikuliert wurde. Vergangene Woche stand die 19-Jährige, zitternd vor Kälte, vor dem U-Bahnhof "Universität" - vor sich eine Meute von Journalisten mit Fernsehkameras, denn ihr Fall hat in Russland Wellen geschlagen, und hinter sich ein kläglich kleines Häuflein von Unterstützern, die nicht wie die Jeunesse Dorée Moskaus wirken. Es sind zwei Dutzend, die Transparente hochhalten und wacker Sprechchöre versuchen: "Exmatrikulier' Dich selbst, Dobrenkow!"

Wladimir Dobrenkow ist der Dekan der Soziologischen Fakultät, seit es diese gibt: seit dem Jahr 1989. Seiner eigenwillig-geschäftstüchtigen Herrschaft ist es zu verdanken, dass in einem Land, das Studentenproteste bisher so gut wie gar nicht kennt, eine kleine Rebellion in die Medien kam. Es gehe denen um nichts weniger als den Versuch, an der renommiertesten Universität des Landes den Keim einer Orangen Revolution zu pflanzen, behauptet der Dekan, der fest im Lager der orthodoxen Nationalisten steht; der sich als Feind westlicher Werteverhöhnung und Fürsprecher einer "rechtgläubigen Soziologie" gibt. Nein, sagt die Studenteninitiative "OD Group": Es geht um nichts anderes als den Versuch, die Qualität der Lehre zu heben.

Zwei Euro für eine Tasse Kaffee

Der Streit begann vor einem Jahr mit einer kleinen Flugblattaktion gegen die Kantinenpreise - umgerechnet zwei Euro kostete die Tasse Kaffee dort, bezahlbar nur für die "Maschory", die Kinder reicher Eltern. Der Gewinn floss laut Studenten in die Taschen des Sohnes des Dekans (was dieser allerdings abstreitet). Erst dann weitete sich der Protest auf die Lehre aus: Zeitgenössische Autoren würden gar nicht abgehandelt, verwendet bloß jene "inhaltslosen" Lehrbücher, die der Dekan mit seinem ständigen Koautor A. Krawtschenko verfasst, genauer: von anderen abgeschrieben hat. Auf der Webseite der Studenteninitiative sind Passagen der Lehrbücher von Dobrenkow und Krawtschenko (Spitzname: Internetschenko) als Plagiate entlarvt.

Hinzu kommt noch, dass Dobrenkow offenbar die Quote der gewinnbringenden zahlenden Studenten drastisch erhöht hat, so dass der Platz im Gebäude nicht reicht. Eine Lüftung gibt es hier nicht, dafür eine lückenlose Überwachung durch elektronische Drehkreuze und Videokameras.

Zuspruch von hoher Stelle

Dass die jungen Studenten - oder jene winzige aktive Minderheit unter den Kommilitonen, die man auf Demonstrationen findet - die Stirn haben, öffentlich über die wissenschaftliche Befähigung der Dozenten zu urteilen, ist eine empfindliche Verkehrung der Machtverhältnisse. Die Studenten haben Zuspruch von hoher Stelle erhalten: Bekannte russische Soziologen wie Tatjana Saslawskaja unterstützen sie, aber auch Soziologen aus dem Ausland wie Michel Wieviorka und die Russische Soziologische Gesellschaft. Die Gesellschaftskammer, ein von Wladimir Putin eingesetztes Gremium der Zivilgesellschaft, hat eine Expertenkommission eingesetzt, deren vernichtender Bericht im Dezember 2007 alle Vorwürfe bestätigte. Er fügte hinzu, einige der an den Lehrstühlen als beispielhaft ausgestellten studentischen Abschlussarbeiten seien "stark ideologisch gefärbt im Sinne der Intoleranz gegen andere Kulturen". Auch der chauvinistische Politiker und Parteichef Wladimir Schirinowski hat hier ja 1998 seinen späten Doktortitel erworben, mit einer Arbeit zum Thema "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Russischen Nation".

Im Dekanat gibt man sich allerdings unerschüttert. Die Studenten seien zum Urteil über das wissenschaftliche Niveau nicht befähigt, andere Forscher "zutiefst subjektiv motiviert", befindet der Presseassistent des Dekans, Wladimir Minkewitsch. Die riesige Mehrheit der 2700 Studenten sei völlig zufrieden. Und die kritischen Studentinnen seien nicht wegen ihrer Kritik exmatrikuliert worden, sondern weil ihre akademischen Leistungen nicht genügt hätten. Swetlana Jerpyljowa hat, wie eine Mitstreiterin, sämtliche vorangegangenen Zeugnisse ins Internet gestellt: Fast überall steht "Ausgezeichnet", die Bestnote. Die schlechte Abschlussnote des dritten Jahres sei ihr nicht begründet worden.

Ob sie Angst hatte, als sie sich in OD-Gruppe einreihte? Die Mehrzahl der Mitglieder gibt ja noch nicht mal ihre Identität preis. "Ja, im ersten Halbjahr hatte ich Angst, obwohl ich gar nicht weiß wovor - ob vor der Reaktion der anderen Studenten oder vor den Maßnahmen des Dekans." Dann habe sie die Angst verloren. Mit der Angst ist nun aber auch der Studienplatz verloren gegangen. Swetlana versucht jetzt, an eine andere Hochschule zu wechseln. Dobrenkow bleibt Dekan, und Kapitalismus und orthodoxe Soziologie können einander weiter bereichern.

Die Proteste sind der Keim einer Orangen Revolution, sagt der Dekan. Es geht um die Qualität der Lehre, sagen die Studenten.

So ziemlich der Hammer, oder? Da kann man sich so richtig aufregen. Welch ein Paradies sind doch im Vergleich dazu deutsche Hochschulen, wo sich die Studierenden für das einsetzen können, was ihnen wichtig ist [Auch für die Huldigung von Rektoren, so wie der RCDS in Freiburg, haha, kein Aprilscherz]. Ebenso zeigt dieser Vorgang jedoch, dass sich auch in Russland junge Leute nicht alles bieten lassen und sich für ihre Rechte einsetzen.

Wer noch mehr darüber wissen will:

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