Montag, 7. April 2008

Bei uns ist's viel wärmer als in Deutschland

Jemand von meinen Mitbewohnern hat mir erzählt, am Wochenende hätte es in Deutschland geschneit. Also bei uns ist der Winter schon richtig weit weg. Gestern war Rekordwetter, der wärmste 6. April, den es in Moskau je gab. Es hatte 19 Grad, das ist eigentlich viel zu warm für Anfang April (Klimawandel lässt auch in Russland grüßen). Es fangen sogar die Blumen an zu blühen, und auf vielen Wiesen beginnt das Gras zu wachsen. Unpraktisch nur, dass ich meine Winterjacke anziehen muss – eine andere habe ich nämlich nicht.

Sonntag, 6. April 2008

Wer sich engagiert, der fliegt!

Über die unmöglichen Zustände an der Soziologie-Fakultät der MGU wollte ich schon länger einen Eintrag haben, kam aber nicht zu. Nun gibt es einen guten Artikel in der Berliner Zeitung:

Berliner Zeitung, 2.4.2008

Rechtgläubige Soziologie
Das Schicksal eines Studentenprotests in Moskau
Christian Esch

Der Sozialismus ist untergegangen, die Soziologie lebt. Und wie! Das Aschenputtel unter den Fächern der Sowjetzeit verkauft sich im neuen russischen Kapitalismus ganz ausgezeichnet. Jedenfalls gilt das für die Soziologische Fakultät der Moskauer Lomonossow-Universität: Die Studenten dort, erklärt Swetlana Jerpyljowa, seien "reich und nicht besonders schlau, weil man da über Beziehungen und Bestechung reinkommt."

Swetlana hat selbst dort studiert, bis sie vor zwei Wochen mit drei anderen aufsässigen Studentinnen zwangsexmatrikuliert wurde. Vergangene Woche stand die 19-Jährige, zitternd vor Kälte, vor dem U-Bahnhof "Universität" - vor sich eine Meute von Journalisten mit Fernsehkameras, denn ihr Fall hat in Russland Wellen geschlagen, und hinter sich ein kläglich kleines Häuflein von Unterstützern, die nicht wie die Jeunesse Dorée Moskaus wirken. Es sind zwei Dutzend, die Transparente hochhalten und wacker Sprechchöre versuchen: "Exmatrikulier' Dich selbst, Dobrenkow!"

Wladimir Dobrenkow ist der Dekan der Soziologischen Fakultät, seit es diese gibt: seit dem Jahr 1989. Seiner eigenwillig-geschäftstüchtigen Herrschaft ist es zu verdanken, dass in einem Land, das Studentenproteste bisher so gut wie gar nicht kennt, eine kleine Rebellion in die Medien kam. Es gehe denen um nichts weniger als den Versuch, an der renommiertesten Universität des Landes den Keim einer Orangen Revolution zu pflanzen, behauptet der Dekan, der fest im Lager der orthodoxen Nationalisten steht; der sich als Feind westlicher Werteverhöhnung und Fürsprecher einer "rechtgläubigen Soziologie" gibt. Nein, sagt die Studenteninitiative "OD Group": Es geht um nichts anderes als den Versuch, die Qualität der Lehre zu heben.

Zwei Euro für eine Tasse Kaffee

Der Streit begann vor einem Jahr mit einer kleinen Flugblattaktion gegen die Kantinenpreise - umgerechnet zwei Euro kostete die Tasse Kaffee dort, bezahlbar nur für die "Maschory", die Kinder reicher Eltern. Der Gewinn floss laut Studenten in die Taschen des Sohnes des Dekans (was dieser allerdings abstreitet). Erst dann weitete sich der Protest auf die Lehre aus: Zeitgenössische Autoren würden gar nicht abgehandelt, verwendet bloß jene "inhaltslosen" Lehrbücher, die der Dekan mit seinem ständigen Koautor A. Krawtschenko verfasst, genauer: von anderen abgeschrieben hat. Auf der Webseite der Studenteninitiative sind Passagen der Lehrbücher von Dobrenkow und Krawtschenko (Spitzname: Internetschenko) als Plagiate entlarvt.

Hinzu kommt noch, dass Dobrenkow offenbar die Quote der gewinnbringenden zahlenden Studenten drastisch erhöht hat, so dass der Platz im Gebäude nicht reicht. Eine Lüftung gibt es hier nicht, dafür eine lückenlose Überwachung durch elektronische Drehkreuze und Videokameras.

Zuspruch von hoher Stelle

Dass die jungen Studenten - oder jene winzige aktive Minderheit unter den Kommilitonen, die man auf Demonstrationen findet - die Stirn haben, öffentlich über die wissenschaftliche Befähigung der Dozenten zu urteilen, ist eine empfindliche Verkehrung der Machtverhältnisse. Die Studenten haben Zuspruch von hoher Stelle erhalten: Bekannte russische Soziologen wie Tatjana Saslawskaja unterstützen sie, aber auch Soziologen aus dem Ausland wie Michel Wieviorka und die Russische Soziologische Gesellschaft. Die Gesellschaftskammer, ein von Wladimir Putin eingesetztes Gremium der Zivilgesellschaft, hat eine Expertenkommission eingesetzt, deren vernichtender Bericht im Dezember 2007 alle Vorwürfe bestätigte. Er fügte hinzu, einige der an den Lehrstühlen als beispielhaft ausgestellten studentischen Abschlussarbeiten seien "stark ideologisch gefärbt im Sinne der Intoleranz gegen andere Kulturen". Auch der chauvinistische Politiker und Parteichef Wladimir Schirinowski hat hier ja 1998 seinen späten Doktortitel erworben, mit einer Arbeit zum Thema "Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Russischen Nation".

Im Dekanat gibt man sich allerdings unerschüttert. Die Studenten seien zum Urteil über das wissenschaftliche Niveau nicht befähigt, andere Forscher "zutiefst subjektiv motiviert", befindet der Presseassistent des Dekans, Wladimir Minkewitsch. Die riesige Mehrheit der 2700 Studenten sei völlig zufrieden. Und die kritischen Studentinnen seien nicht wegen ihrer Kritik exmatrikuliert worden, sondern weil ihre akademischen Leistungen nicht genügt hätten. Swetlana Jerpyljowa hat, wie eine Mitstreiterin, sämtliche vorangegangenen Zeugnisse ins Internet gestellt: Fast überall steht "Ausgezeichnet", die Bestnote. Die schlechte Abschlussnote des dritten Jahres sei ihr nicht begründet worden.

Ob sie Angst hatte, als sie sich in OD-Gruppe einreihte? Die Mehrzahl der Mitglieder gibt ja noch nicht mal ihre Identität preis. "Ja, im ersten Halbjahr hatte ich Angst, obwohl ich gar nicht weiß wovor - ob vor der Reaktion der anderen Studenten oder vor den Maßnahmen des Dekans." Dann habe sie die Angst verloren. Mit der Angst ist nun aber auch der Studienplatz verloren gegangen. Swetlana versucht jetzt, an eine andere Hochschule zu wechseln. Dobrenkow bleibt Dekan, und Kapitalismus und orthodoxe Soziologie können einander weiter bereichern.

Die Proteste sind der Keim einer Orangen Revolution, sagt der Dekan. Es geht um die Qualität der Lehre, sagen die Studenten.

So ziemlich der Hammer, oder? Da kann man sich so richtig aufregen. Welch ein Paradies sind doch im Vergleich dazu deutsche Hochschulen, wo sich die Studierenden für das einsetzen können, was ihnen wichtig ist [Auch für die Huldigung von Rektoren, so wie der RCDS in Freiburg, haha, kein Aprilscherz]. Ebenso zeigt dieser Vorgang jedoch, dass sich auch in Russland junge Leute nicht alles bieten lassen und sich für ihre Rechte einsetzen.

Wer noch mehr darüber wissen will:

Meerschweinchen im Park

Wir laufen durch den Park von der Metro nach Hause. Da kommt eine Frau mit ihrem kleinen Hündchen vorbei. Dazu Tiina: "Schaut mal, da führt wieder jemand sein Meerschweinchen spazieren."

Sozialarbeiter ohne Soziale Arbeit

An unserer Uni gibt es etwas Eigenartiges. Zwar studieren hier ein paar Hundert Leute das Fach Soziale Arbeit, die Mehrheit aber will im Anschluss gar nicht als Sozialarbeiter arbeiten, sondern irgendeine andere Tätigkeit ausüben. Der Grund ist vielfach sehr einfach. Im sozialen Bereich in Russland kann man als MitarbeiterIn nur ziemlich wenig Geld verdienen. Anzutreffen ist auch immer wieder eine sehr schwach ausgeprägte Motivation. Auf die Frage, warum er das studiere, antwortete uns ein Student einmal: „Weiß ich nicht. Ich studiere halt in Moskau.“ Irgendwie fnde ich das reichlich sonderbar. Da beschäftigen sich alle mit Sozialarbeit, aber danach umsetzen will es keiner.

Gestern haben wir aber zum ersten Mal jemanden getroffen, der im sozialen Bereich arbeitet, obwohl er nicht einmal Sozialarbeiter ist. Igor war an der Landwirtschaftsakademie und hat dort Pädagogik gelernt. Bei einem Betriebspraktikum in der Nähe von München hat er vor mehreren Jahren therapeutisches Reiten entdeckt. Daraufhin hat er in Moskau nach der „Ippoterapija“ gesucht und dort angefangen zu arbeiten. Im Moment schreibt er darüber seine Dissertation. In die Therapie kommen ganz unterschiedliche Leute, hat er uns erzählt. Psychisch Kranke, Menschen mit Down-Syndrom, Autisten. Man hat richtig gemerkt, dass ihm dieser Job Spaß macht. Leider sei diese Art von Therapie in Russland noch nicht sehr entwickelt. In Deutschland gebe es etwa 10 mal so häufig. Aber es würde in Russland immer mehr zunehmen.

Diesen Eindruck habe ich hier, zumindest in Moskau, immer wieder. Zwar liegt im sozialen Bereich vieles im Argen, aber es gibt stetige Verbesserungen, was die Weiterentwicklung von Strukturen und die Finanzierung betrifft. Schwieriger wird es bei der Wahrnehmung innerhalb der Gesellschaft. Denn oft werden Menschen, die sowieso schon am Rande stehen, noch weiter ausgegrenzt. Sei dies bei Obdachlosen, bei Psychisch Kranken oder bei Menschen mit Behinderung. Mit denen will man nix zu tun haben. Vieles ist bestimmt eine Folge der Sowjetunion, wo solche Probleme einfach in irgendwelche verlotterten Heime auf dem Land abgeschoben wurden, so dass der Durchschnittssowjetbürger überhaupt nichts davon mitbekommen hat. Mit solchen Menschen war man nie konfrontiert. Und was man nicht kennt, das lehnt man ab. Aber bis zur Integration in die Gesellschaft ist es noch ein weiter Weg.

Freitag, 4. April 2008

Sowjetwitz des Tages VIII: Karl Marx im Radio

Karl Marx wünscht, in der UdSSR im Radio aufzutreten.
„Obwohl Sie der Begründer des Kommunismus sagt,“ sagt ihm Breschnew, „kann ich eine solch wichtige Frage nicht alleine entscheiden. Wir haben ja eine kollektive Führung.“
„Ich werde nur einen Satz sagen!“
Breschnew entscheidet, dass er für nur einen Satz die Verantwortung übernehmen könne.
Marx tritt ans Mikrophon und ruft: „Proletarier aller Länder, vergebt mir!“
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Карл Маркс захотел выступить в СССР по радио.
- Хучь вы и комунисиський основоположник, - сказал ему
Брежнев, - я не могу единолично решить такой важный вопрос. У нас
коллективное руководство.
- Я скажу только одну фразу!
Cказать одну фразу Брежнев разрешил под свою ответственность.
Маркс подошел к микрофону и прокричал:
- Пролетарии всех стран, простите меня!

Büchertips

Was macht man in Moskau, wenn man eine halbe Stunde mit der Metro in die Stadt fährt? Man liest. Schon als ich vor 4 Jahren in Moskau war, habe ich die Metro dafür geliebt, dass ich endlich Zeit hatte, Bücher zu lesen. Schließlich braucht man da ja nicht mehr dazu als ein Taschenbuch, das man sich einfach in die Jacke steckt und mit einer Hand halten kann.

Neben diversen Zeitschriften habe ich bis letzte Woche Wladimir Sorokins День опричника („Der Tag des Opritschniks“) gelesen. Eine Antiutopie von Russland im Jahr 2028, bei dem an der Westgrenze eine große Mauer hochgezogen wurde, um Russland vor dem sündhaften Ausland zu beschützen. Erzählt wird der typische Tagesablauf eines typischen Opritschniks, eines Mitarbeiters der Opritschnina. Unter Zar Iwan IV. (=Grosnyj = der Schreckliche) war das so eine Art private Geheimpolizei des Zaren, die dessen persönliche Aufträge ausführte und einen Staat im Staate bildete. Auch 2028 gibt es wieder einen Zaren (den großen Gosudar), der uneingeschränkt über die Große Rus’ herrscht und mit seiner Weisheit und seiner Mildtätigkeit alle Menschenkinder beglückt. Die Opritschnina der Moderne ist dafür zuständig, seine wunderbare Politik durchzusetzen und alle, die sich dem Allgemeinwohl in den Weg stellen, zu entfernen. Dabei geht es ziemlich derb zu, es werden Drogen konsumiert, Menschen ermordet und Frauen vergewaltigt. Spannend ist das Buch deshalb, weil viele Tendenzen der Gegenwart in die Zukunft weitergedacht werden. Manchmal überzeugend, manchmal eher nicht. Jedenfalls interessant. Sorokin selbst äußert sich zu seinem Werk, er habe damit ein politisches Buch schreiben wollen, denn praktisch könne sich nur noch die Kunst Meinungsfreiheit leisten.

Jetzt lese ich aber was anderes, von Ruben David Gonzalez Gallego Белое на Черном („Weiß auf Schwarz"), 2003 mit dem Booker, einem der bekanntesten russischen Buchpreise, ausgezeichneten Buch. Darin beschreibt Gallego seine Kindheit in sowjetischen Kinderheimen – als behindertes Waisenkind. Die Sprache ist ziemlich einfach und doch kraftvoll (Wer Russisch lernt und noch nie ein russisches Buch gelesen hat – damit kann man gut anfangen!). Die Zustände in der Kinderheimen der Sowjetunion waren ziemlich menschenunwürdig und würden uns total erschrecken. Anstatt aber zu versuchen, Mitleid für sein eigenes Schicksal und das anderer zu erzeugen, schreibt Gallego, er wolle nur die positiven Seiten zeigen. Denn schließlich seien Kinder, die ihre Arme und ihre Beine nicht bewegen können und unter widrigen Umständen überleben, Helden. Von diesen Helden erzähle er. Ein tolles Buch, lohnt sich auf jeden Fall. Besonders für Sozialarbeiter ;-)

Alles voll

Gerade weiß ich überhaupt nicht, wo mir der Kopf steht. Seit letzter Woche gibt es plötzlich ein riesiges Aufkommen an Hausaufgaben, es gibt so richtig viel zu tun. ein Forschungsprogramm entwickeln, Texte auswerten, Russisch-Vokabeln, Wörter für ein Wörterbuch sammeln, mit MS Access (echt benutzerunfreundliches Programm – selbst Lotus Notes ist da besser) eine Datenbank erstellen, PowerPoint-Präsentation, und dann noch 6 Tage in der Uni Veranstaltungen. Aber immerhin macht es Spaß.

Leider leidet der Blog ziemlich darunter, dass ich plötzlich ein so großes Aufkommen an Prioritäten habe. Dabei habe ich eigentlich so eine große Liste von Themen, über die man lohnend schreiben könnte...