Was macht man in Moskau, wenn man eine halbe Stunde mit der Metro in die Stadt fährt? Man liest. Schon als ich vor 4 Jahren in Moskau war, habe ich die Metro dafür geliebt, dass ich endlich Zeit hatte, Bücher zu lesen. Schließlich braucht man da ja nicht mehr dazu als ein Taschenbuch, das man sich einfach in die Jacke steckt und mit einer Hand halten kann.
Neben diversen Zeitschriften habe ich bis letzte Woche Wladimir Sorokins День опричника („Der Tag des Opritschniks“) gelesen. Eine Antiutopie von Russland im Jahr 2028, bei dem an der Westgrenze eine große Mauer hochgezogen wurde, um Russland vor dem sündhaften Ausland zu beschützen. Erzählt wird der typische Tagesablauf eines typischen Opritschniks, eines Mitarbeiters der Opritschnina. Unter Zar Iwan IV. (=Grosnyj = der Schreckliche) war das so eine Art private Geheimpolizei des Zaren, die dessen persönliche Aufträge ausführte und einen Staat im Staate bildete. Auch 2028 gibt es wieder einen Zaren (den großen Gosudar), der uneingeschränkt über die Große Rus’ herrscht und mit seiner Weisheit und seiner Mildtätigkeit alle Menschenkinder beglückt. Die Opritschnina der Moderne ist dafür zuständig, seine wunderbare Politik durchzusetzen und alle, die sich dem Allgemeinwohl in den Weg stellen, zu entfernen. Dabei geht es ziemlich derb zu, es werden Drogen konsumiert, Menschen ermordet und Frauen vergewaltigt. Spannend ist das Buch deshalb, weil viele Tendenzen der Gegenwart in die Zukunft weitergedacht werden. Manchmal überzeugend, manchmal eher nicht. Jedenfalls interessant. Sorokin selbst äußert sich zu seinem Werk, er habe damit ein politisches Buch schreiben wollen, denn praktisch könne sich nur noch die Kunst Meinungsfreiheit leisten.
Jetzt lese ich aber was anderes, von Ruben David Gonzalez Gallego Белое на Черном („Weiß auf Schwarz"), 2003 mit dem Booker, einem der bekanntesten russischen Buchpreise, ausgezeichneten Buch. Darin beschreibt Gallego seine Kindheit in sowjetischen Kinderheimen – als behindertes Waisenkind. Die Sprache ist ziemlich einfach und doch kraftvoll (Wer Russisch lernt und noch nie ein russisches Buch gelesen hat – damit kann man gut anfangen!). Die Zustände in der Kinderheimen der Sowjetunion waren ziemlich menschenunwürdig und würden uns total erschrecken. Anstatt aber zu versuchen, Mitleid für sein eigenes Schicksal und das anderer zu erzeugen, schreibt Gallego, er wolle nur die positiven Seiten zeigen. Denn schließlich seien Kinder, die ihre Arme und ihre Beine nicht bewegen können und unter widrigen Umständen überleben, Helden. Von diesen Helden erzähle er. Ein tolles Buch, lohnt sich auf jeden Fall. Besonders für Sozialarbeiter ;-)
Freitag, 4. April 2008
Büchertips
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